Anna

1888

Anna

Anna, als zu später Zeit
Wir beisammen saßen,
Ach, mit wieviel Zärtlichkeit
Wir der Zeit vergaßen!
Hast du mich doch gar so lieb,
Und ich selber glühte,
Und der freche Blumendieb
Zauste Blatt und Blüthe.

Aber eh ich sie zerriß,
Warnte mich die Stimme
In der süßen Finsterniß,
Schreckte mich voll Grimme:
Laß, o laß das Mädchen heil,
Liebend hingegeben,
Wollust ist ein gift’ger Pfeil,
Mordet Lust und Leben.

Und mir haben feierlich
Uns versprechen müssen:
Jeder, jeder hütet sich
Vor den schlimmen Küssen.
Besser so sich rein vertraun,
Freundlich aufgeschlossen,
Als mit Reue, Schuld und Graun
Heimlichste Genossen.

1890

Anna

Anna, als zu später Zeit
Wir beisammen saßen,
Ach, mit wieviel Zärtlichkeit
Wir der Zeit vergaßen!
Hast du mich doch gar so lieb,
Und ich selber glühte,
Und der freche Blumendieb
Zauste Blatt und Blüthe.

Aber eh‘ ich sie zerriß,
Warnte mich die Stimme
In der süßen Finsterniß,
Schreckte mich voll Grimme:
Laß, o laß das Mädchen heil,
Liebend hingegeben,
Wollust ist ein gift’ger Pfeil,
Mordet Lust und Leben.

Und mir haben feierlich
Uns versprechen müssen:
Jeder, jeder hütet sich
Vor den schlimmen Küssen.
Besser so sich rein vertraun,
Freundlich aufgeschlossen,
Als mit Reue, Schuld und Graun
Heimlichste Genossen.

Amselrufe. Neue Strophen, Zürich 1888. S. 115-116. Online
Amselrufe, Zürich 1890, S. 107-108. Online