Berliner Abendbild
Wagen rollen in langen Reih’n,
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Bannt mich arabische Zaubermacht?
Tageshelle in dunkler Nacht?
Hastig huschen Gestalten vorbei,
Keine fragt, wer die and’re sei.
Keine fragt dich nach Lust und Schmerz,
Keine horcht auf der andern Herz.
Keine sorgt, ob du krank und schwach,
Jede rennt ihrem Glücke nach,
Jede stürzt ohne Rast und Ruh
Der hinrollenden Kugel zu.
Langsam schlend’r ich im Schwarm allein —
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,
Bettler in Fetzen, Dirnen im Staat.
Rechnend drängt sich der Kaufmann hin,
Rechnet des Tages Verlust und Gewinn.
Werkmann bebt vor des Winters Noth:
“Fänd’ ich, ach fänd’ ich mein täglich Brod!
Hungernd wartet die Kinderscbaar,
‘s ist ein kritisches, böses Jahr.”
Bruder Studio zum Freunde spricht:
“Warte, das Mädel entkommt uns nicht!
Siehst du, sie guckt; brillant, famos!
Walter, nun sieh’ doch — die Taille bloss!”
Steht der Gardist in Positur,
Weil der Hauptmann vorüberfuhr.
Liess seine Donna im Stich — allein:
“Ja, liebste Rosa, Respekt muss sein.”
“Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet,
Rosen und Veilcben, duftend und nett!
Bitte, mein Herr, ach sei’n Sie so gut!”
“Scheer dich zum Teufel, du Gassenbrut!
Relzow, auf Ehre, wahrer Skandal.”
“Unter Kam’raden ganz egal.”
“Sehen Sie, bitte! Grandiose Figur,
Wirklich charmant, merveilleuse Frisur.”
“Echt garantirt? Doch das macht nichts aus.
Hm! Begleiten wir sie nach Haus?”
“Neuestes Extrablatt! Schwurgericht!”
Hei, das drängt siech neugierig dicht.
“So ein Schwindler, ein frecher Hund.
Schlägt erst todt und leugnet es rund.”
Wie das rasselt, summt und braust!
Wie es mir vor den Ohren saust!
Jahrmarkt des Lebens, so gross — so klein!
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Aus meinen Gedichten, Zürich, Leipzig, Berlin 1902, S. 7. Online