1888
Ich bin ein Bürgersöhnchen…
Ich bin ein Bürgersöhnchen, gespickt
Mit alten lateinischen Brocken,
Ich ward auf die hohe Schule geschickt,
Noch hinter den Ohren nicht trocken.
Ich griff aus Verzweiflung zur Philologie,
Praeceptor Germaniae zu werden,
Praeceptor Germaniae werde ich nie
Und nie Philologe auf Erden.
Ich bin ein Bürgersöhnchen und thät
Meinem Papa gern den Gefallen,
Doch er machte mich so, und da bin ich Poet
Und muß meine Reime euch lallen.
Meine Lieder sind Amseln im Baume der Zeit,
Sie merken das Schwanken der Krone,
Es ist eine morsche Herrlichkeit,
Trotz Schandgesetz und Kanone.
Ich bin ein Bürgersöhnchen und muß
Mich in mein Schicksal ergeben,
An Halbheit leide ich Ueberfluß,
Das ist das Elend eben.
Wär‘ ich kein Bürgersöhnchen und macht‘
Ich am Setzerkasten die Lieder,
Die ganze verfaulte Gesellschaft kracht‘
Ich mit meinen Liedern nieder.
1890
Ich bin ein Bürgersöhnchen…
Ich bin ein Bürgersöhnchen, gespickt
Mit alten lateinischen Brocken,
Ich ward auf die hohe Schule geschickt,
Noch hinter den Ohren nicht trocken.
Ich griff aus Verzweiflung zur Philologie,
Praeceptor Germaniae zu werden,
Praeceptor Germaniae werde ich nie
Und nie Philologe auf Erden.
Ich bin ein Bürgersöhnchen und thät
Meinem Papa gern den Gefallen,
Doch er machte mich so, und da bin ich Poet
Und muß meine Reime euch lallen.
Meine Lieder sind Amseln im Baume der Zeit,
Sie merken das Schwanken der Krone,
Es ist eine morsche Herrlichkeit,
Trotz Schandgesetz und Kanone.
Ich bin ein Bürgersöhnchen und muß
Mich in mein Schicksal ergeben,
An Halbheit leide ich Ueberfluß,
Das ist das Elend eben.
Wär‘ ich kein Bürgersöhnchen und macht‘
Ich am Setzerkasten die Lieder,
Die ganze verfaulte Gesellschaft kracht‘
Ich mit meinen Liedern nieder.
1921
Bürgersöhnchen
Ich bin ein Bürgersöhnchen, gespickt
Mit alten lateinischen Brocken,
Ich ward auf die hohe Schule geschickt,
Noch hinter den Ohren nicht trocken.
Ich griff aus Verzweiflung zur Philologie,
Praeceptor Germaniae zu werden,
Praeceptor Germaniae werde ich nie
Und nie Philologe auf Erden.
Ich bin ein Bürgersöhnchen und tät
Meinem Papa gern den Gefallen,
Doch er machte mich so, und da bin ich Poet
Und muß meine Reime euch lallen.
Meine Lieder sind Amseln im Baume der Zeit,
Sie merken das Schwanken der Krone,
Es ist eine morsche Herrlichkeit,
Denn die Lüge sitzt auf dem Throne.
Ich bin ein Bürgersöhnchen und muß
Mich in mein Schicksal ergeben,
An „Bildung“ leiden wir Überfluß,
Das ist unser „klassisches“ Leben.
Wär‘ ich kein Bürgersöhnchen und macht‘
Ich die Lieder am Setzerkasten,
Die ganze verfaulte Gesellschaft kracht‘
Ich zugrund mit Fahnen und Masten.
Amselrufe. Neue Strophen, Zürich 1888, S. 109-110. Online
Amselrufe, Zürich 1890, S. 101-102. Online
Gesammelte Werke. Zweiter Band: Buch des Kampfes, München 1921, S. 61.