Nach dem Kriege
Aus dem Französischen der Pariser Zeitung “Aurore”
von
Karl Henckell.
Aus ist es, die Kanonen stumm,
Müd und gesättigt wie ein Tier.
O Fest, so scheusslich und so dumm —
Welch grausig Schauspiel war das hier!
Die Stärksten ziehn frohlockend fort,
Stolz aut die blut’ge Erntekrone…
Lernt, Kinder, Euer Fibelwort,
Indessen schlummert die Kanone!
Es schweigt der Sturm, der Himmel fand
Nun seine heitre Klarheit wieder ;
Schon lässt sich auf das Sonnenland
Ein Flug von blauen Faltern nieder.
Es schaudert leise noch das Korn,
Solch Wunder that die “blaue Bohne”…
Sing, Grille, uns dein Lied von vorn,
Indessen schlummert die Kanone!
O Bauern, in die Furche streut
Der Krieg Euch menschliche Skelette,
Der Frühling, der das Herz erfreut,
Lockt Veilchen aus der Schädelstätte.
Weinblüte rankt sich am Geäst,
Kornblume gattet sich dem Mohne…
Du arme Lerche, bau dein Nest,
Indessen schlummert die Kanone!
Aufs grüne Gras der Gräber weht
Rosen des Windes weiche Schwinge.
Im Rebenschmuck die Ulme stellt:
O süsse Einigkeit der Dinge!
Der Biene Brummmusik beginnt
Nach schrecklichem Trompetentone…
Küss Deinen Liebsten, schönes Kind,
Indessen schlummert die Kanone!
In Wehen liegt die Welt, es hebt
Die Arbeit an sich neu zu regen,
Im Bienenkorb der Menschen weht
Ein fröhlich summendes Bewegen.
Ein Morgenrot, so schön wie nie,
Geht auf nun, Herz und Hirn zum Lohne…
Poet, schaff neue Poesie,
Indessen schlummert die Kanone!
Der Friede mit dem gold’nen Stab
Herrscht segnend über Flur und Haine,
Man mäht die blonden Aehren ab
Beim grossen Erntesonnenscheine.
Die Menschen sind von Groll befreit,
Ein bess’rer Geist sitzt auf dem Throne…
Umarmt Euch, Völker, nun ist’s Zeit! —
Indessen schlummert die Kanone.
Der Friede, 5. Jahrg., 5. August 1898, Nr. 15, S. 1. Online