Nicht Gott, nicht Herr

Nicht Gott, nicht Herr

“Nicht Gott, nicht Herr” — wie schön ist die Parole,
So kurz und knapp, so einfach und so wahr.
Auf meines Schreibzeugs bronzener Konsole
Glüh’ sie in Flammenlettern immerdar!
Wer sie durchdacht und wer sie ganz verstanden,
Von seinem Leibe sinkt das Sklavenkleid;
Nicht Gott, nicht Herr — den Geistern, die’s empfanden,
Sei meines Herzens reinster Gruß geweiht!

Und diese Losung soll Gemeingut heißen,
Bis aller Knechte Seligkeit verdorrt,
Sie wird mit Schrecken, ach, die Welt durchkreißen,
So sehr verleugnet ward sie fort und fort.
Und doch ist sie die Hoheit nur, die Güte,
Des Menschen ganze Würde schließt sie ein…
“Nicht Gott, nicht Herr” — o daß sie glühte, glühte
Von Stirn zu Stirn mit Seelenwiederschein!

Zwischenspiel, Zürich 1894, S. 66. Online